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Die Illusion der Sicherheit – oder warum wir uns vor allem schützen wollen.
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07.08.2025
08.08.2025
Topic contribution
Die Illusion der Sicherheit – oder warum wir uns vor allem schützen wollen.

Wir Menschen sind eine sehr spezielle Spezies. Wir fliegen zum Mond, sezieren das Erbgut, erschaffen künstliche Intelligenz – und all diese Dinge die wir erschaffen erweitern unsere Handlungsspielräume und haben gleichzeitig ein enormes Angstpotential im Gepäck.
Unsere Vorfahren, hatten Angst dem Wetter ungeschützt ausgesetzt zu sein und bauten Hütten. Heute haben wir Angst um unsere Hütten. Wir versuchen durch Feuermelder, Gebäudeversicherungen, Zäune, Türschlösser, Alarmanlagen, usw. unser Schutzbedürfnis auch auf unsere Besitztümer auszudehnen.
- Kein Handy ohne Hülle
- Kein Auto ohne TÜV
- Kein Urlaub ohne Reiserücktrittsversicherung
- Kein Netzwerk ohne Firewall
- Kein Film ohne Triggerwarnung
- Kein Winter ohne Grippe-Impfung
- Kein Passwort ohne Sonderzeichen
- Kein SM-Play ohne Safewort
- Kein Dating ohne Cover
Wir leben in einer Welt, in der der Wunsch nach Sicherheit beinahe religiöse Züge angenommen hat. Alles soll versichert, abgeschirmt, gesichert, geschützt werden. Gegen Krankheiten. Gegen Naturgewalten. Gegen emotionale Verletzungen. Gegen Risiken aller Art eben – real oder eingebildet°.
°(Es existieren keine belastbaren, wissenschaftlichen Studien, die nachweisen, dass Frauenparkplätze in Parkhäusern sexuelle Übergriffe tatsächlich reduzieren. Aber eine Studie von CONTIPARK (2018) zeigt: 81 % der Frauen fühlten sich „eher sicher“ auf Frauenparkplätzen. Auf normalen Parkplätzen waren es nur 54 %)
Doch was sagt das über uns aus?
Sind wir tatsächlich so fragil, wie unsere Schutzmaßnahmen vermuten lassen? Oder ist unser Bedürfnis nach Sicherheit längst zu einem kulturellen Reflex geworden – ein Automatismus, der nicht mehr prüft, ob der Schutz überhaupt sinnvoll ist, sondern nur noch danach fragt, was man noch nicht abgesichert hat?
Eine ganzes Heer von findigen Anbietern lebt davon immer neue vermeintliche Schwachstellen zu finden, vor denen wir uns schützen sollten. Feuermelder in jedem Raum, Armbänder die unseren Puls permanent überwachen, VPNs die unsere Anonymität wahren.
Der Schutzreflex als Weltanschauung
Schon als Kind hat mir meine Mutter eingeschärft: Sicherheit ist etwas Gutes. Wir tragen Helme beim Fahrradfahren, lernen, nicht mit Fremden zu sprechen, schließen Berufsunfähigkeitsversicherungen ab, sobald wir den ersten Job haben. Und mit der Zeit weitet sich dieser Reflex aus: Datenschutz, Impfschutz, Gebäudeschutz, Identitätsschutz, Umweltschutz, Jugendschutz, Demokratieschutz, Minderheitenschutz, Rechtsschutz, Arbeitsschutz – wir leben in einem regelrechten Sicherheitszeitalter. Sicherheit wird zur Maxime. Zum moralischen Imperativ.
Aber Sicherheit ist kein messbarer Fakt. Sicherheit ist ein Gefühl. Und Gefühle sind manipulierbar. Was, wenn unser Streben nach Sicherheit uns nicht freier, sondern ängstlicher macht? Was, wenn uns das Leben selbst immer stärker als Risikofaktor erscheint?
Bezogen auf unsere Szene kann man sich fragen, ob diejenigen die mit Freunden oder Bekannten ein „Cover“ vereinbart haben, sich danach wirklich sicherer und sorgenfreier in ein Date begeben. Oder ob allein durch die Tatsache, dass das Cover besteht, das ganze Date unter einer düsteren Wolke der potentiellen Gefahr schwebt?
Schutz kann lähmen
Je mehr wir versuchen, uns gegen das Leben abzusichern, desto stärker wächst die Angst vor dem, was wir nicht kontrollieren können. Wenn jeder Mückenstich gegoogelt wird, jeder Spaziergang eine Reflexionsweste braucht und jede Meinung zuerst auf ihre Sicherheit geprüft wird – dann verlieren wir die Fähigkeit, mit Unsicherheit zu leben.
Sicherheit schafft Komfort, keine Freiheit. Sie schenkt uns keine Stärke, sondern verführt uns zur Passivität. Wer sich permanent schützen will, begibt sich in eine gedankliche Festung, in der das Unbekannte, das Spontane, das Wilde – also das Leben selbst – draußen bleiben muss.
„Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren.“
Benjamin Franklin (1706–1790)
Es gibt eine Grenze, an der Schutz zur Selbstsabotage wird. Wenn wir beginnen, vor allem Angst zu haben, was nicht kontrollierbar ist, entsteht eine Gesellschaft, in der Risiko zum Feind erklärt wird. In der der kreative Sprung, der absurde Gedanke, die provozierende Idee nicht mehr gewagt wird – aus Angst, jemandem zu nahe zu treten, einen Fehler zu machen, angreifbar zu sein.
Das Paradoxe: Je mehr Schutz wir bauen, desto größer wird die Angst, dass etwas durch das Raster fällt. Es entsteht eine Spirale: Mehr Schutz erzeugt mehr Unsicherheit. Wir wiegen uns in Sicherheit, doch wir spüren, dass sie nie vollkommen sein kann.
Das Resultat: noch mehr Absicherung. Noch mehr Kontrolle. Noch mehr Überwachung. In vielen Gewerken und besonders im digitalen Sektor nehmen sie Sicherheitsvorschriften in unüberschaubarer Weise zu.
Der Mut zur Verletzlichkeit
Vielleicht liegt die Lösung nicht in einem noch besseren Schutz, sondern im besseren Umgang mit Unsicherheit. Am Ende liegt die Lösung nicht darin, möglichst wenig verwundbar zu sein, sondern mit der eigenen Verletzlichkeit offen und mutig umzugehen.
Ich wage die These: „Der Mensch ist nicht dafür gemacht, unzerstörbar zu sein“. Wir sind sterblich, fehlerhaft, begrenzt. Und genau das macht uns lebendig. Genau das macht Mut, Risiken einzugehen, Neues zu wagen, zu scheitern – und es erneut zu versuchen.
Wir brauchen Schutz – keine Frage. Aber wir sollten uns fragen, wofür wir uns schützen. Schutz sollte kein Selbstzweck sein. Er sollte kein Gefängnis werden, das uns lähmt.
„Mein Leben war voller schrecklicher Unglücke – von denen die meisten nie eingetreten sind.“
Michel de Montaigne (1533–1592)
Wahrscheinlich wäre es klüger, uns nicht nur vor allem zu schützen, sondern uns auch für etwas zu öffnen: für das Leben mit bewußt akzeptierten Risiken.
Text: M. Zyks
Bild: M. Zyks & Sora
Bild: M. Zyks & Sora
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